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30. November 2020

Heute Morgen ist Sr. Liliane Juchli im Haus für Pflege friedlich eingeschlafen.

https://lilianejuchli.ch/

https://www.hausfuerpflege.ch/

Ich durfte Sr. Liliane Juchli, eine Pionierin der ganzheitlichen Pflege, mehrfach persönlich treffen und es war immer spannend, fachlich und menschlich bereichernd. Für mich unvergessen das Aufeinandertreffen von Naomi Feil und Sr. Liliane Juchli in Berlingen.

Anlässlich einer von mir moderierten Tagung über "Alter und Spiritualität" hat Sr. Liliane Juchli ihre Philosophie über die spirituellen Dimensionen der Pflege wie folgt zusammengefasst und es klingt heute für mich wie ein Vermächtnis an die nachfolgenden Generationen. 

„Leiden schafft Pflege“ – ein Wortspiel zu einer meiner Kernaussagen: Hinschauen auf das, was ansteht, verändern was möglich ist – eben „die Leidenschaft für das Mögliche“. Es hat mich ein Berufsleben lang begleitet. Ich könnte es auch so sagen:

Es wurde mir ein Feuer ins Herz gelegt, das sich schon früh meldete: Mission – den Menschen helfen. Das Feld das mir schliesslich zugefallen ist: die Pflege (Pflegen Ausbildung, Schreiben, Unterwegssein): eine ganz andere Form der Entwicklungshilfe, die mich schon früh in den Bann zog und mich nie mehr los liess.

Ein Feuer gleichsam, das ich selbst als Leidenschaft für das Mögliche bezeichnet habe und das im Titel des Filmes aufklingt: Leiden schafft Pflege

https://www.youtube.com/watch?v=D0IBYUfRlXw

Ich spüre die Freude und Begeisterung mit der ich selber am Steuer des Schiffes Pflege gestanden bin und die Richtung mit beeinflusst habe. Aber ich spüre auch, dass die Zeit reif geworden ist, von diesem Steuer zurückzutreten, weil längst jüngere Kolleginnen und Kollegen angetreten sind. Es sind Pflegende einer neuen Generation, die wissen was sie wollen und können und die ein Rüstzeug zur Verfügung haben, von denen wir in unserer Jugend nur träumen konnten.

Die Träume – ja sie werden wieder lebendig diese Träume der 70er-Jahre von einer Meisterschaft in der Pflege, als Begriffe wie „Bachelor“ oder Master für Pflegende noch in weiter Ferne lagen.

Das Kerngeschäft der Pflege:

           Kompetentes Handeln

           Begleiten und Zuhören

> im Begleiten des Menschen: wirkt nicht in erster Linie das was wir tun, sondern wie wir es tun

> der Dienst am Menschen. Die Sorge für den Hilfsbedürftigen, Trost im Angesicht von Leidern und Sterben

> Pflege beruht auf der Achtung und Ehrfurcht gegenüber dem anderen Menschen – zentral ist und bleibt die Achtung der Würde der Person /Menschenwürde, oder wie Mutter M. Theresia (die Gründerin unseres Ordens) schon vor 150 Jahren eindrücklich formuliert hat: Das Gramm Gold im Mitmenschen entdecken.

Und mein unermüdliches Wort „bleibt dran“ die Pflege der Zukunft braucht Pflegende die ihren Beruf mögen und sich dafür stark machen: Berufsstolz und Berufsfreude

Es gilt also auch heute: spanne deinen Wagen an einen Stern, denn es kehrt nicht um und bleibt nicht stehen, wer sich an einen Stern gebunden weiss. (Leonardo da Vinci)"









«Demenz ist nicht einfach langsames Vergessen und Erlösung»

Demenz ist viel mehr als allmähliches Vergessen, warnt Psychiater Christoph Held. Angehörige sollten sich früher vom Wunsch befreien, möglichst lange zu Hause zu pflegen.



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Interview im Beobachter

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Bitte nicht berühren?

Berührungen und Beziehungen bei Menschen mit Demenz

Ein person-zentrierter Zugang zu Berührung, Beziehung, Berührtsein und Demenz

von Luke J. Tanner

Herausgeber: Carsten Niebergall

ERSCHEINT SEPTEMBER 2018 bei Hogrefe: Bestellung

ISBN: 9783456858555

2018, 272 Seiten

Geleitwort Carsten Niebergall


Der Weltkuschel- oder Knuddeltag (National Hugging Day) will immer am 21. Januar die Wichtigkeit von Umarmungen und Berührungen aufzeigen. Menschen organisieren Kuschelpartys und es werden kostenlose Umarmungen (Free Hugs) auf der Straße angeboten. Das ethisch verwerfliche und historisch nicht gesicherte Experiment des Stauferkönigs Friedrich II. um 1300, der Säuglinge von Ammen aufziehen ließ, ohne dass diese umarmt wurden, zeigt dass Berührungen lebensnotwendig sind. Die Säuglinge sind nach kurzer Zeit gestorben, obwohl ihre körperlichen Bedürfnisse erfüllt waren.

Der Psychologe, Martin Grunwald (2017), Leiter des weltweit einzigartigen Haptik-Labors der Universität Leipzig, zeigt in seinen Forschungen auf, dass der Tastsinn stärker mit der Psyche verbunden ist als der Seh- und Geruchssinn. Es gibt kein Säugetier, das sich ohne Berührung adäquat weiterentwickelt.

„Aus der Praxis für die Praxis“ so kann man die Vorgehensweise von Luke J. Tanner, dem Massage- und Körpertherapeut mit einer umfangreichen Expertise und Erfahrung in der Pflege von Menschen mit Demenz umschreiben. Sein Buch „Berührungen und Beziehungen bei Menschen mit Demenz. Ein person-zentrierter Zugang zu Berührung, Beziehung, Berührtsein und Demenz“ basiert auf jahrelangen Beobachtungen in britischen Pflegeheimen mit sehr unterschiedlichen Berührungskulturen. Es schließt eine große Lücke in der person-zentrierten Pflege und Betreuung und gleichzeitig eröffnet es neue Aufgabenbereiche für die professionell Pflegenden: es plädiert für einen spielerischen und suchenden Umgang mit Berührungen. Auch im neuen „Expertenstandard: Beziehungsgestaltung in der Pflege von Menschen mit Demenz“ (DNQP, 2018) ist keine gesonderte Untersuchung über die Wirksamkeit und Notwendigkeit von freundschaftlichen Berührungsformen zu finden. Durch die sicherlich notwendige Professionalisierung von Pflegedienstleistungen sind freundschaftliche und auf Nähe basierende Berührungsformen durch eine missverstandene Angst vor Übergriffen in den Hintergrund getreten und gelten im „klinischen“ Pflegedienst häufig als Distanzüberschreitung und übergriffig. Professionelle oder emotionale Distanz wird zum Teil gefordert. Wenn berührt wird z.B. in der Körperpflege oder bei Transfers vom Bett auf den Rollstuhl, dann ist es ein Teil der pflegerischen Aufgabe und erwünscht. Eine Pflegefachperson verbringt im Durchschnitt etwa zwei Drittel ihres ganzen Handelns damit, Menschen zu berühren: Pflege ist auch „Handarbeit“. Darüber hinausgehende Berührungsformen, die nicht einem klinischen Zweck dienen, gelten nicht als Teil des pflegerischen Auftrages in einer Berührung vermeidenden Pflegekultur. Es ist ein Paradoxon: Obwohl zumindest im Pflegeheim viel berührt wird, leiden Bewohner, aber auch ältere Menschen im häuslichen Kontext, unter chronischen Berührungsmangel und wünschen sich mehr anteilnehmende und freundschaftliche Berührung außerhalb der Behandlungspflege. Das ist eine Form von emotionaler Vernachlässigung. Tom Kitwood (2016) nennt das eine maligne Pflegekultur. 

In Pflegedokumentationen ist z.B. zu lesen, dass der Bewohner unkooperatives Verhalten in der Körperpflege bzw. der Widerstand gegen die Pflege zeigt. Anstatt sich zu überlegen, ob die Widerstände eventuell mit der distanzierenden und instrumentellen Berührungsart zu tun haben, wird es als Teil der dementiellen Erkrankung angesehen, weil keine kognitive Einsicht in die Notwendigkeit der Körperpflege besteht. Luke J. Tanner zeigt in eindrucksvollen Praxisbeispielen auf wie durch gezielte und anteilnehmende Beobachtung phantasievolle Alternativen gegenüber paternalistischen Pflegeinterventionen entwickelt werden können.

Hier gibt es sinnvolle Anknüpfungspunkte mit der Validationsmethode, die aber in manchen Ausformungen sich zu stark auf instrumentelle Techniken der verbalen und nonverbalen Kommunikation fokussiert. Der phänomenologisch-beschreibende Ansatz von Tanner ordnet sich nicht einer Methode unter und dass ist sein Vorteil gegenüber normativen Pflegeinterventionen, weil offener und weniger dogmatisch. 
Im deutschsprachigen Raum bietet das Konzept der Basalen Stimulation (Fröhlich, 2016) mit seiner Betonung der Leiblichkeit der menschlichen Existenz Anschlussmöglichkeiten für den Tannerschen Ansatz und ein fruchtbarer Austausch ist in Zukunft wünschenswert.
Für die Pflegepraxis sehr wertvoll wird dieses Buch durch seinen umfangreichen Anhang mit in der Praxis erprobten Beobachtungstools und Trainingsübungen, um im Pflege-Team die person-zentrierten Berührungsformen weiterzuentwickeln.

Luke J. Tanner hat dieses Buch nicht aus einer wissenschaftlichen Perspektive verfasst und verliert sich auch nicht in endlosen Diskussionen. Dennoch wartet es mit einer überzeugenden Systematik auf mit gleichzeitigen sehr persönlichen Erfahrungen und Praxisbeispielen. Dass eine gute Praxis aber auch Theorie braucht, zeigt sich bei Tanner darin, dass er sich sehr intensiv mit Kitwoods Bedürfnistheorie und der Bindungstheorie von John Bolwby (1979) auseinandersetzt und diese für die lebensnotwendigen Berührungen bei Menschen mit Demenz fruchtbar macht. 

Ich wünsche diesem Buch viele Leser und dass es letztendlich das Wohlbefinden der Menschen unterstützt.
Carsten Niebergall im August 2018 

Bowlby, J. (1979). The Making and Breaking of Affectional Bonds. London: Tavistock.
Deutsches Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege - DNQP (2018). Expertenstandard Beziehungsgestaltung in der Pflege von Menschen mit Demenz.Osnabrück: Hochschule Osnabrück.
Grunwald, M. (2017). Homo hapticus. Warum wir ohne Berührung nicht leben können. München: Droemer Knaur.
Kitwood T. (2016). Demenz (7. Aufl.). Bern: Hogrefe. 
Fröhlich, A. (2016). Basale Stimulation in der Pflege – Das Arbeitsbuch (3. Aufl.). Bern: Hogrefe.